Textprobe „Tod eines Mädchens“

tod eines maedchens

1.

Luise Pimpernells rechte Hand klatschte auf ihren linken Unterarm.
»Zwei auf einen Streich«, grantelte sie und schnippte mit den Fingern zwei tote Gelsen auf den Plankenboden der Terrasse des Seehäuschens ihrer Freundin Magda Mikulacs.
»Heute sind sie besonders lästig. Und es ist so verdächtig still und schwül. Die Surfer kommen gar nicht weiter.« Magda zeigte auf den See hinaus. »Und segeln wird auch nicht die große Freude sein bei so einer Flaute.«
»Dafür sind ganz schön viel Schiffernakel da draußen.«
»Da werden halt ein paar auf Deck in der Sonne liegen. Doch da hinten leuchtet bereits die Sturmwarnung auf. Es wird gut sein, wenn die Leute schauen, dass sie hereinkommen. Denn wenn es so schwül ist, kann es schnell gehen und sehr heftig werden.«

Wie zur Bestätigung fegte ein kräftiger Windstoß die Sitzpolster der beiden unbenutzten Sessel über die Terrasse und die beiden Frauen hechteten hinter ihnen nach, um sie einzufangen, bevor sie in den See geweht wurden.
»Ho, ho, da werd ich meine Siesta beenden und schauen, dass ich in den Ort hineinkomme. Bin ja zu Fuß hier«, vermeldete Luise und schaute aufmerksam in den Himmel.
»Du kannst auch hierbleiben und mit mir mit dem Auto reinfahren. Ich bleib ebenfalls nicht mehr lang«, bot Magda an.
»Nein, du weißt, ich geh gern. Und auf deine Grammelpogatscherl und Blunzenstangerl, von
denen ich wieder einmal zu viel gegessen hab, wird das besonders gut sein. Auch das Viertel kann ich dabei gut ausdampfen.«
»Hast du heute noch Dienst?«
»Nicht wirklich. Home-Office quasi«, Luise zwinkerte. »Muss noch ein paar Berichte lesen und mit der Springmaus telefonieren, um den morgigen Tag zu koordinieren. Derzeit ist es erfreulich ruhig in meinem Dezernat.«

Am Horizont, unter der Wolkenfront, zogen auf einmal ein paar grelle Blitze über den Himmel und der See war von jetzt auf jetzt überhaupt nicht mehr ruhig. Der kräftige Wind war schon einem Sturm nahe und die Segler hatten sichtbar alle Hände voll zu tun.
»Ich glaube, dass es besser ist, wenn du nicht mehr zu Fuß gehst, das schaut aus, als würde das Gewitter ganz schnell kommen.« Magda zeigte auf die Wolkenwand, die tatsächlich bereits sehr nah war.
»Dass sich das hier immer so schlagartig ändern kann. Grad war noch alles ruhig und strahlend schön. Jetzt schaut’s direkt gefährlich aus und man weiß dann gleich, warum der See oft so unterschätzt wird. Wo er noch dazu nicht sehr tief ist. Aber wenn ich mir den Wellengang so anschau, wär mir das im Augenblick nicht sehr geheuer da draußen.« Luise zog die Stirn in Falten und rollte die Augen.
Der Wind trieb die Wellen nun auch durch das Schilf auf die Hütte von Magda zu und die beiden Frauen beeilten sich, die Terrasse zu räumen.

Als sie nach zehn Minuten ins Auto stiegen, war der Himmel zugezogen und sehr dunkel. Die Blitze waren bereits ziemlich nah und von heftigem Donnergrollen begleitet.
Auf der Seestraße hinein in den Ort hatten sie das Gefühl, dass sie dem Wetter noch davonfuhren, doch als Luise vor ihrem Haus ausstieg, fielen riesige schwere Tropfen auf sie nieder, die sich von einem Augenblick auf den anderen in einen Wolkenbruch verwandelten. Bis sie das Tor ihres Streckhofes aufgesperrt hatte und durch den Innenhof zur Eingangstür gelaufen war, war sie bis auf die Haut durchnässt und ihr unvermeidlicher Hut, der an diesem Tag ein luftiger Strohhut gewesen war, hing ihr wie ein Fetzen über Augen und Ohren.

 

2.

Am nächsten Morgen schien die Sonne schon zeitig kräftig vom wolkenlosen Himmel und versprach einen heißen Sommertag.
Die Leiche hatte sich im Schilfsaum am Rande des Seebads von Schilfern verfangen und schaukelte im leichten Wellengang.
Da der See hier sehr seicht war, trugen die Beamten Anglerstiefel und wateten damit um den Körper herum, um Fotos zu machen und nach Details Ausschau zu halten, die hilfreich sein konnten.

Als Luise Pimpernell eintraf, stellt man auch ihr sofort ein Paar dieser hohen Gummistiefel zur Verfügung. Sie runzelte kurz die Stirn und sah an sich herunter.
Sie war eine große massige Frau in den Fünf-zigern, ihre Beine steckten in Stützstrümpfen und ihre Füße, sogar bei der zu erwartenden Hitze, in ihren geliebten Haferlschuhen.
Darüber blähte sich ein knöchellanger Rock mit Gummibund aus Baumwolle mit nahezu psychedelisch anmutendem Kreismuster. Dazu trug sie ein ärmelloses Top in kräftigem Orange und darüber offen eine ihrer geliebten Rüschenblusen in ebenso geliebter edler Fliederfarbe. Ihr Strohhut hatte die gestrige Gewitterattacke nicht überlebt, deshalb hatte sie einen kleinen Baumwollhut gewählt, wie ihn die Bauarbeiter gerne trugen. Ihrer allerdings war in Dunkelblau mit weißen Punkten. Wie immer hatte sie die alte Schultasche aus bockigem Schweinsleder auf den Rücken geschoben.
Die meisten Beamten konnte sie mit ihrem Aufzug nicht überraschen, man kannte sie einfach nur so, doch machte sich immer irgendjemand einen Spaß daraus, einen jungen Kollegen, der noch nicht das Glück gehabt hatte, die Bekanntschaft mit der hochrangigen Ermittlerin aus dem LKA Eisenstadt gemacht zu haben, gegen sie in die Schlacht zu schicken. Diesmal, indem sie den Auserwählten aufforderten, der Chefermittlerin die Gummistiefel zu bringen.

Und so stand der arme Tropf mit offenem Mund vor Luise Pimpernell, und als sie von ihren Füßen hoch- und ihn ansah, wie er ihr die Dinger hinhielt, wurde er rot bis unter die Uniformkappe, öffnete ein paar Mal den Mund, ohne einen Ton herauszubringen, und ließ sie vor ihre Füße fallen.

»Ah, Luise«, wurde die Situation von einer tiefen Bassstimme gerettet. »Du warst aber jetzt flott da.«
Die Pimpernell zwinkerte dem verwirrten Jüngling vor ihr spöttisch zu und wandte sich lächelnd dem Ausrufer zu.
»Hallo Roman, schön dich wiederzusehen, wenn auch der Anlass, wie so oft, ein unangenehmer ist. Ich war noch zu Hause, deshalb ging es so schnell. Weißt du schon was, haben wir einen Fall, oder ist es ein Unfall?«

Abteilungsinspektor Roman Grümpl, der Kriminalbeamte des Postenkommandos Neusiedl am See, stand ein paar Meter seitlich im Wasser. Er war das komplette Kontrastprogramm zur Pimpernell. Eigentlich war er ein Kontrastprogramm in sich. Ein kleiner, schmaler Mann mit einem ungemein adretten und seriösen Auftreten. Das meiste an ihm war grau. Die Anzüge, Krawatten, Augen und die sorgfältig geföhnte üppige Haarpracht. Dazu trug er beneidenswert tadellos gebügelte blütenweiße Hemden.
Doch dann überrumpelte er die Leute als erstes immer mit seiner tiefen Trompetenstimme, die niemand in dieser kleinen Person vermutete. Und in weiterer Folge, wenn nötig, mit den Fähigkeiten dieser schmalen Figur, die noch frappierender waren. Seine Leidenschaft waren fernöstliche Kampfsportarten und in manchen hatte er es ganz schön weit gebracht. Natürlich im Federgewicht, aber zur Überwältigung von Normalsterblichen reichte es immer. Dabei trug oft das Überraschungsmoment noch zusätzlich zum Erfolg bei.

Wenn Frau Oberst Dr. Luise Pimpernell, ihres Zeichens Leiterin des Dezernats Verbrechen an Leib und Leben im LKA Eisenstadt, zur Aufklärung von Gewaltverbrechen im Bezirk Neusiedl antrat, arbeitete sie sehr gern mit ihm. Ihre Zusammenarbeit hatte sich in vielen Jahren gut aufeinander eingespielt, darüber hinaus hatten sie die gleiche Art von Humor und ähnliche kulinarische Vorlieben.
Wie man sich jedoch denken kann, bildeten die große, üppige, bunte Oberstin und der halb so groß wie halb so breit wirkende, grau anmutende Abteilungsinspektor immer ein Team, das höchste Verblüffung hervorrief.

»Nein, ich weiß noch nichts. Ganz persönlich glaube ich allerdings, dass wir es leider mit einem Fall zu tun haben. Am Hinterkopf der Dame scheint sich eine schwere Schlagverletzung zu befinden.«
»Na gut«, seufzte Luise und schlüpfte aus ihren Schuhen. Dann hob sie ihren Rocksaum und stopfte ihn in den Gummibund, um die Stiefel anziehen zu können. Dabei legte sie ihre stützbestrumpften Beine frei und der junge Beamte stolperte erschreckt davon.
Vorsichtig stieg die Ermittlerin in den See und stakste mit kleinen Schritten zu dem Leichnam.
»Die schaut aber noch sehr jung aus«, stellte sie mehr für sich fest. »Und hübsch war sie auch«, wandte sie sich an Grümpl. »Weißt du schon, wer sie ist?«
»Nein. Gefunden hat sie der Hausarbeiter, der vor Badöffnung hier seine Runde dreht. Der ist jedoch kein Einheimischer und kennt sie nicht. Und von uns auch keiner.«
Die junge Frau schaukelte auf dem Rücken liegend im seichten Wasser. Bis auf ein winziges Bikinihöschen in Zitronengelb war sie nackt. Um ihren Kopf breitete sich langes Haar wie ein Fächer. Obwohl es das Wasser nachdunkelte, erkannte man, dass es blond war.

Luise beugte sich zu der Toten hinab. »Sie scheint nicht an dem Schlag gestorben sondern ertrunken zu sein. Siehst du den Schaumpilz an ihrem Mund? Auch wenn er immer wieder weggespült wurde?«
Bevor sie weiterredete, schnupperte sie in die Luft.
»Oh, der Doktor! Da brauch ich mich gar nicht umzudrehen. Der Wind kommt offensichtlich vom Ufer.«
Wie immer, und sogar zu dieser frühen Morgenstunde, trat der zuständige Amtsarzt Dr. Mehlerer aus dem Nachbarort Guid in einer starken Moschuswolke auf.
Luise schaute, dass sie ein paar Schritte in die andere Windrichtung kam, als er zu der Leiche trat. Auf nahezu nüchternen Magen ertrug sie den intensiven Geruch besonders schwer. Und wie jedes Mal dachte sie, sie könnte nicht eine seiner Patientinnen sein, egal wie gut er als Arzt sein mochte. Wie die das nur aushielten.
»Offensichtlich ertrunken«, war auch sein erstes Statement. Dann drehte er den Kopf der jungen Frau etwas zur Seite.
»Oh, das sieht gar nicht gut aus. Da sie aber Schaumpilz hat, dürfte sie nicht daran gestorben sein.«
Er hob vorsichtig einen Arm in die Höhe und betrachtete aufmerksam die Hand und die Nägel der Frau.
»Nach Ausprägung der Waschhaut zu schließen, könnte es sein, dass sie bei dem gestrigen Gewitter zu Tode kam. Jedoch könnten es auch einige Stunden mehr sein. Das alles muss der Kollege in der Gerichtsmedizin in Wien klären.«
Luise zuckte die Achseln und verdrehte die Augen zu Grümpl hin. Zu gut kannte sie dieses Ritual. Etwas anderes war von dem Düftling nicht zu erwarten gewesen. Für seine Verhältnisse hatte er sogar relativ viel gesagt.
Und egal, ob Gewaltanwendung oder Unfall mit Todesfolge, es würde von ihr ermittelt werden müssen.

Vorsichtig schob sie sich wieder aus dem Wasser.
An der Absperrung entstand Unruhe. Die Spurensicherung war eingetroffen. Auch das Leichentransportfahrzeug.
Und gerade, als sie die Stiefel auszog und in Strümpfen und mit hochgeschobenem Rock dastand, erblickte sie die nächste Prüfung ihres Morgens.
In langen Schritten stürmte der Bürgermeister auf sie zu.
»Was ist passiert?«, schrie er schon von Weitem. »Die Leute wollen ins Bad!«
»Dir auch einen guten Morgen«, antwortete die Pimpernell mit sarkastischem Lächeln. »Mit Baden wird’s noch ein bissl dauern. Du hast eine Leiche in deinem Seebad.«
»Scheiße«, entfuhr es ihm. »Wie lang kann das dauern?«
»Solange es dauert«, antwortete Luise lakonisch. »Aber vielleicht kannst du sogar einmal hilfreich sein.« Sie deutete zum Seeufer. »Kennst du sie?«
Rudi Weiss umrundete Luise mit großen Schritten und warf nur einen Blick zum Schilfrand.
»Jessas, die Rita!«, stieß er heraus und holte zischend Atem.
»Rita? Welche Rita? Sollt ich die auch kennen?«
»Die Enkelin vom alten Bartlechner. Die kennst du sicher.«
»Die kleine Margrit? Oh! Die hab ich schon Jahre nicht mehr gesehen.«
Fredl Bartlechner war mit ihrem älteren Bruder Nepomuk in die Schule gegangen und ein Teil ihrer Kindheit gewesen. Wo die großen Buben sie halt teilnehmen haben lassen.
»Die Jungen wohnen aber nicht bei den Eltern, gell?«
»Nein, die haben auf den Wiesengründen gebaut, als wir die damals aufgeschlossen haben.«
»Ich brauche die Adresse«, forderte die Pimpernell und der Bürgermeister antwortete prompt: »Schafgarbenweg 26. Aber sag, was ist denn mit ihr passiert?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen, weil ich noch immer keine Hellseherin bin. Fest steht nur, dass sie ertrunken ist.«
»Ja, und wie geht’s jetzt da weiter?«
»Du wirst die Leut wegschicken müssen. Wir sperren erst einmal alles ab.«
»Ja, aber …«
»Nix aber. Das braucht seine Zeit. Und noch etwas: Du sagst niemandem, wer hier liegt! Verstanden?«
»Ja, aber …«
»Nix aber. Und schon gar nicht informierst du die Eltern oder Großeltern. Das mach ich selbst. Versau mir nicht wieder die ersten Ermittlungsschritte wie das letzte Mal!«
Rudi Weiss zuckte mit den Achseln und drehte seine Augen genervt zur Seite, während er hörbar seufzte.
Luise grinste spöttisch und wedelte mit der Hand.
»Und jetzt geh aus dem Weg. Die Bergungsarbeiten beginnen gleich.«
Sie zupfte den Rock aus dem Gummibund und zog ihre Schuhe an.
Dann rief sie nach Roman Grümpl.

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